Es verschlägt Lisa Nerz, Heldin etlicher Bücher von Lehmann auf die Mondstation. Was Stoff für einen fetzigen Science Fiction-artigen Roman sein könnte, kommt hier glaubwürdig, direkt nüchtern ‚rüber. Wenn Morgen so ein Teil auf unseren Trabanten gebaut werden würde, so wie in Nachtkrater dargestellt, könnte es funktionieren. Lehmann entwickelt eine detaillierte Welt, mit feinem Blick für die interessanten Details, aber ohne die Liebe des technischen Onanisten. Ihr Blick gilt mehr den praktischen Dingen. Wie verändern sich Alltagsphänomene (die Klospülung zum Beispiel) bei der reduzierten Gravitation, wie sich wirkt die fehlende Atmosphäre auf die Sicht aus, wie ist das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationen usw usf.
Ähnlich wie die ISS ist die Mondstation eine Gemeinschaftseinrichtung der verschiedenen Raumfahrtnationen und wird nach fein ausgewogenem Proporz genutzt. Gemeinsam will man den Mond und das Weltall erforschen und die Voraussetzungen für den Marsflug schaffen. Dass, wenn es geht, auch ein ordentlicher ökonomischer Nutzen, als Folge von Rohstofffunden, rausspringen sollte, versteht sich von selbst. Deshalb ist Lisa Nerz wohl auch auf dem Mond gelandet.
Wie sie dort hin kam, weiß sie nicht. Sie kann sich nur noch erinnern, dass sie mit ihrem Lover, dem Oberstaatsanwalt Dr. Richard Weber unterwegs war und ein paar der einflussreichen weltrauminteressierten Deutschen kennenlernte, allesamt mit erheblichen ökonomischen Interesse am Mondprojekt, ein Gespräch mit einem kritischen Franzosen führte, der dann kurz darauf besoffen in eine kaputte Schaufensterscheibe gefallen und dort verblutet sein soll und das Gefühl hatte, dass da etwas nicht stimmt, dass da eine riesige Sache am Kochen sei, schließlich war erst vor wenigen Wochen ein deutscher Astronaut beim Außeneinsatz auf dem Mond zu Tode gekommen.
Kaum ist Lisa auf dem Mond geht es rund. Sie trifft dort auf einen bunten Haufen unterschiedlichster Menschen, die von Lehmann höchst liebevoll zusammen gestellt wurden und die gemeinsam mit Lisa, die wie eine freche, laute Göre daherkommt, für gelungene Unterhaltung sorgen. Lisa gerät in Gefahr, jemand stirbt, Erpresserbriefe werden gefunden und das Leben auf der Station scheint von Ameisen und Cyanobakterien bedroht. Lehmann trägt in einem fast slapstickartigen Stil vor, schafft es aber immer hart am Rand der Realität zu bleiben.
So kommt es dann, dass sie plausibel beschreibt, wie eine solche sozialen Gruppe, die in der Extremsituation lebt, funktioniert, wie die Wissenschaftler und die Militärs quer zueinander stehen und wie sich die Menschen ihre Rückzugsräume auch unter diesen Bedingungen suchen.
Nachtkrater ist nicht nur extrem witzig und beschreibt das Sozialverhalten plausibel und die physischen Realitäten glaubwürdig mit denen auf einer Mondstation zu rechnen sind, es ist auch ein ungemein klug unterhaltendes Buch und es begeistert immer wieder mit pfiffigen Gedanken. Die Auflösung ist gewöhnungsbedürftig, zeigt aber die Selbstironie, zu der die Autorin fähig ist. Nachdem das Buch beim DKP schmählich übersehen wurde, kann man nur auf Gerechtigkeit und die Nominierungsliste des Glauser hoffen.
Lehmann hat sich offensichtlich, eine Literaturliste im Abspann und diverse Zitate in den Kapitelanfängen zeigen das, sehr viel Mühe bei der Recherche gemacht. ‚Rausgekommen ist dabei auch noch so etwas wie ein opus magnus der Mondliteratur.
bernd
Lieber Herr Kochanowski,
es hilft nix: das opus magnum der Mondliteratur ist und bleibt „Kaff“. Den Rest mag Herr Rudolph erklären.
Beste Grüße!
Sehr richtig, lieber Herr Linder. Quasi das Nibelungenlied künftiger Mondkultur. Aber erklären mag ich gar nix.
bye
dpr
Da ich jetzt ja erst wieder gelernt habe, dass es beim Krimi mehr auf den Zaunpfahl unter dem Raben als auf jenem in der Hand des Täters ankommt, habt Ihr natürlich recht, ich denke sogar, dass Christine Lehmann Euch zustimmte, Mare Crisium kommt nämlich mehrfach im Buch vor bzw. wird zitiert.
Ich will ja AS und seine Leistung überhaupt nicht schmälern, aber die Mondliteratur, die Erforschng des Mondes und unser Wissen im Allgemeinen haben sich seit Erscheinung des weiterentwickelt, Lehmanns spiegelt das dienend wider.
„Kaff“ ist trotzdem das opus magnum. Sapienti sat!
Lieber Bernd K.,
ist es okay, wenn ich auch was sage? Erst mal danke für die schöne Rezension und euch anderen für eure Diskussion. Stimmt, „Kaff“ ist das opus magnum. AS ist seit meiner Jugend mein Vorbild, keiner hat sich und seinem Erzählen die Sprache so sehr untertan gemacht wie er. Es kommen bei mir noch andere Vorbilder hinzu, zum Beispiel Karl May, der Fabulierungslust wegen, und Jane Austen mit ihrer filigranen Psychologie gesellschaftlichen Verhaltens. Aber aller Anfang war AS. Klar musste ich irgendwann, so nach dreißig Jahren, auch mal ein Mondbuch schreiben und sie darin mitnehmen, den Kepler, Jules Verne und AS, und dabei mich und diesen einen Krimi hineinstecken in eine Tradition von Büchern gebildeter Herren. 🙂
CHL
[…] 8. Christine Lehmann – Nachtkrater […]