Nachdem Axel Bussmer Norbert Horst vorwarf, den Vertrag zwischen Autor und Lesern zu ignorieren, ist dpr gleich zum Schreibtisch gerannt und hat nach dem Vertrag mit seinen Lesern gesucht, aber offensichtlich keinen gefunden. Auch Anobella fand keinen: „Weder sollte der Autor einen solchen Vertrag mit dem Leser eingehen – wo kommen wir dahin? er möchte bitte dahin schreiben, wohin der Text ihn trägt – noch mit sich selbst. Natürlich gibt es Autoren, die der Zielgruppenerwartung entsprechend schreiben.„.
Ich weiß nicht !
Wir leben ja nicht in einem kulturkontextlosen Raum und auch Genre ist ein entsprechender Kontext. Mit derartigen Kontexten beschäftigen sich Semiotiker, Daniel Chandler ist so einer („I am a visual semiotician„). Er hat ein entsprechendes Lehrbuch (Semiotics: The Basics) geschrieben, das im Grundstudiumbereich recht populär ist. Chandler hat auch einen Hypertext über Semiotics geschrieben und er hat daraus abgeleitet eine Einführung zur Genretheorie geschrieben. Kenntnisreichere Texte zum Thema, zudem von leichter Hand geschrieben, mag’s geben, nur ich kenne keinen, insbesondere nicht im Internet. Für mich war der Text eine Offenbarung, weil er über die in Krimikreisen üblichen Diskussionen zum Thema Genre weit, aber verständlich hinaus geht. Bei Chandler findet sich folgender Satz:
Genres can be seen as constituting a kind of tacit contract between authors and readers
Contract kann man nun als „Vereinbarung“ oder „Vertrag“ übersetzen, wesentlich ist das wohl nur in sofern, als dass ein Vertrag eine Art kodifizierte Vereinbarung ist. Ein Vertrag beruht aus Angebot und Annahme und kann auch stillschweigend zustande kommen. Wenn ein Installateur eine sterile Wasserflasche im Labor abholt, diese befüllt und mit Probebegleitschein zurück ins Labor bringt, kommt auch ohne dass man darüber gesprochen hat, ein Vertrag zustande. Das Labor ist verpflichtet die Untersuchung durchzuführen und der Installateur die Rechnung zu zahlen. Wer also behauptet, einen Krimi zu schreiben, muss sich auch der Tatsache unterwerfen, dass das Buch als Krimi gelesen wird.
Die Frage ist ja nur, was in dem „Vertrag“/ der Vereinbarung steht.
Die relative Häufigkeit, das gemeinsame Auftreten und Funktion bestimmter Merkmale im Text zeichnen ein einzelnes Genre aus. Es ist leicht, die Variabilität in einem Genre zu unterschätzen (1, die Nummern beziehen sich auf die unten gegebenen Zitate Chandlers). Genre besteht aus Wiederholung und Variation (2), kein Mensch behauptet also, dass der „Genrevertrag“ der Befriedigung von Zielgruppenerwartungen diene, im Gegenteil: Jedes einzelne Element eines Genres könne dieses grundlegend ändern, auch wenn es selber nur wenige typische Charakteristika des Genres zeige (3), ein Genre ist also keine starre Form (4). Üblicherweise enthalte ein Werk nicht alle charakteristischen Merkmale eines Genres (5) und einige Werke gelten als typischer als andere (6).
Den Autoren helfe die Genreform, weil sie auf Erwartungen der Leser zurückgreifen können (7), dem Leser helfe das Genre bei der Deutung der Texte (8). Wie es für Alltagswissen üblich ist, wird auch Wissen über’s Genre zumeist stillschweigend durch tägliche Übung erworben (9).
Assigning a text to a genre sets up initial expectations. Some of these may be challenged within individual texts (e.g. a detective film in which the murderer is revealed at the outset). Competent readers of a genre are not generally confused when some of their initial expectations are not met – the framework of the genre can be seen as offering ‚default‘ expectations which act as a starting point for interpretation rather than a straitjacket. However, challenging too many conventional expectations for the genre could threaten the integrity of the text.
Also, laut Chandler ist das Genre eine Vereinbarung zwischen Autor und Leser, allerdings eine unscharfe. Als Leser steht es mir immer frei das Angebot des Autors, „Hier, Krimi !“ abzulehnen. In Bezug auf Horst finde ich persönlich, dass es nun wahrlich Autoren gibt, die abenteuerlicher mit den Genrekonventionen umgehen.
bernd
Aus Chandler, Daniel (1997): ‚An Introduction to Genre Theory
(1) Particular features which are characteristic of a genre are not normally unique to it; it is their relative prominence, combination and functions which are distinctive (Neale 1980, 22-3). It is easy to underplay the differences within a genre.
(2) Steve Neale declares that ‚genres are instances of repetition and difference‘ (Neale 1980, 48). He adds that ‚difference is absolutely essential to the economy of genre‘ (ibid., 50): mere repetition would not attract an audience. Tzvetan Todorov argued that ‚any instance of a genre will be necessarily different‘ (cited in Gledhill 1985, 60).
(3) John Hartley notes that ‚the addition of just one film to the Western genre… changes that genre as a whole – even though the Western in question may display few of the recongized conventions, styles or subject matters traditionally associated with its genre‘ (O’Sullivan et al. 1994).
(4) Traditionally, genres (particularly literary genres) tended to be regarded as fixed forms, but contemporary theory emphasizes that both their forms and functions are dynamic.
(5) Contemporary theorists tend to describe genres in terms of ‚family resemblances‘ among texts (a notion derived from the philosopher Wittgenstein) rather than definitionally (Swales 1990, 49). An individual text within a genre rarely if ever has all of the characteristic features of the genre (Fowler 1989, 215).
(6) … there is another approach to describing genres which is based on the psycholinguistic concept of prototypicality. According to this approach, some texts would be widely regarded as being more typical members of a genre than others.
(7) From the point of view of the producers of texts within a genre, an advantage of genres is that they can rely on readers already having knowledge and expectations about works within a genre. Fowler comments that ‚the system of generic expectations amounts to a code, by the use of which (or by departure from which) composition becomes more economical‘ (Fowler 1989: 215). Genres can thus be seen as a kind of shorthand serving to increase the ‚efficiency‘ of communication. They may even function as a means of preventing a text from dissolving into ‚individualism and incomprehensibility‘ (Gledhill 1985: 63).
(8) As for reading within genres, some argue that knowledge of genre conventions leads to passive consumption of generic texts; others argue that making sense of texts within genres is an active process of constructing meaning (Knight 1994). Genre provides an important frame of reference which helps readers to identify, select and interpret texts.
(9) Like most of our everyday knowledge, genre knowledge is typically tacit and would be difficult for most readers to articulate as any kind of detailed and coherent framework. Clearly one needs to encounter sufficient examples of a genre in order to recognize shared features as being characteristic of it. Alastair Fowler suggests that ‚readers learn genres gradually, usually through unconscious familiarization‘ (Fowler 1989: 215).
Die Referenzen Daniel Chandlers beziehen sich auf diese Liste.
Im Goldenen Zeitalter des Detektivromans 1920 bis 1940
gab es den Vertrag ja schwarz auf weiß.
Der Detection Club in England (Christie, Sayers,….) in England
und S.S.van Dine in den USA schnürten ein enges Korsett
von Regeln für das Rätsel, die zu brechen die Höchststrafe der Kritikerwut nach sich zog.
Der Krimi als bloßes intellektuelles Rätselspiel zwischen Autor und Leser.
Anthony Berkley, Gründer des Detektion Club, hat mit seiner Roger Sheringham Reihe die Regeln brav befolgt und sie später als Francis Iles versucht zu brechen, etwa, indem in „Vorsätzlich“ der Mörder von Anbeginn bekannt war.
Schön, dass der Krimi dieses Spielfeld hinter sich gelassen hat,
ein cleveres Rätsel ist mir schon ein wichtiges Spannungs-
element, aber Krimis haben heute zum Glück viel mehr zu bieten.
Jürgen
Richtig Jürgen.
Soweit ich weiß, hatte A, Christie mit The Murder of Roger Ackroyd (deutsch: Alibi) damals eine Sturm der Entrüstung provoziert, denn dessen Täter brach ja nun deutlich mit damals gängigen Vorstellungen.
Verträge sind Willenserklärungen, sie müssen nicht explizit fixiert werden, sie stützen sich bisweilen auf Konventionen und Kontexte (wie in deinem Beispiel vom Installateur). Manchmal, aber nicht immer, sind es zweiseitige Willenserklärungen. Ich verpflichte mich, eine bestimmte, mehr oder weniger spezifizierte Ware oder Dienstleistung zu liefern, die andere Seite erklärt sich bereit, dafür einen festgelegten Kaufpreis zu entrichten. Das ist ja alles gut und schön, und wie ich das sehe, halten sich auch die meisten AutorInnen daran. Aber wir reden hier von Literatur. Und deren ureigenes Charakteristikum besteht darin, dass sie Verträge manchmal brechen darf und sogar muss. Es gibt nämlich Menschen – ich gehöre dazu -, die Bücher vor allem deshalb lesen, weil sie etwas haben möchten, von dem sie zu Beginn der Lektüre noch gar nicht wissen, dass es das überhaupt gibt. Oder etwas, von dem sie vor der Lektüre eine andere Vorstellung haben als nachher. Das gilt alles nicht für das weite Feld der affirmativen Literatur. Für das andere, viel kleinere schon. Nun könnte man darüber streiten, ob Norbert Horst überhaupt einen Vertrag gebrochen hat, der besagt, der Täter sei eindeutig zu überführen und „zur Rechenschaft zu ziehen“. Aber selbst wenn: Durch diesen Vertragsbruch mit dem Leser hätte er den Vertrag mit der Literatur eingehalten.
bye
dpr
Schöne Conclusio!
Wie das Beispiel vom Western zeigt, der das Genre verändert ohne selber ein typischer Vertreter zu sein, stimmen sowohl Chandler als auch ich Dir 100% zu. Es ist doch offensichtlich eine Gratwanderung von „repetition and difference“ und dieser Grat verläuft für jeden anders. Aber Kultur (nicht nur Literatur !) ohne Regelbruch ? Undenkbar !
In meinen Augen hat Horst den Vertrag „Krimi“ überhaupt nicht gebrochen (siehe Beitrag zuvor), aber mit Haas zum Beispiel hatten wir beide unsere Problem – ohne dass wir deshalb bestritten, dass er gute Bücher schreibt. Ob es einen Vertrag „zur Rechenschaft ziehen“ überhaupt gibt, möchte ich bezweifeln, am ehesten ist er Bestandteil des Vertrags „Cozy“, sicherlich nicht des Vertrags „Police Procedural“.
Diese alle paar Monate aufflammende Diskussion von Krimi vs. Literatur ist ja auch nur ein Zeichen dafür, dass viele Leser und Autoren (auf beiden Seiten des Grabens) das mit den Regeln sehr ernst nehmen und das Moment der Dynamik unterschätzen.
Beste Grüße
bernd
Wenn es ein Buch gäbe, in dem ein Kommissar gar keinen Fall lösen kann und der Leser seine Verzweiflung miterlebt, kann das gut umgesetzt sehr große Literatur werden. Diese Etikettierung in einen Krimi wird von den Verlagen vorgenommen, um den Leser zu lenken, weil dieser nach Büchern sucht, die nach Spannung Entlastung bieten. Ist ja auch nichts einzuwenden, aber etwas gegen ein Schema gewendet, kann genauso, wenn nicht mehr Eindruck hinterlassen. Es kommt darauf an, wie weit man sich verblüffen lassen kann oder will.
Henny
euer wolf-haas-diskurs war genauso löchrig wie der hier. kommissar, leiche, sprache, witz, migräne, derbe frauen … was wollts ihr mehr. gott sei dank habe ich nicht euren job, krimi definieren zu müssen.
Nun ja der Diskurs muss ja löchrig sein, wir sind ja im Internet und nicht im Hauptseminar. Aber unsere Argumente waren es weit weniger. Wenn Du Sie nicht teilst, ist es recht.
Noch schöner wäre es natürlich, Du ließest uns an Deiner Meinung teil habe, so meine ich zu verstehen, dass Du glaubtest in einen kulturgeschichtlich leeren Raum zu sein: Das kannst Du aber kaum ernst meinen.
Du hättest Sicher recht, wenn Du unbeeinflusst von den bewussten und unbewussten Erfahrungen Deines bisherigen Lebens und Deiner bisherigen Lektüre einsam auf einer unbewohnten Insel lebtest. So wie die Dinge aber stehen, sind Deine Entscheidungen für oder gegen ein Medium, ein Genre usw usf Willenerklärungen und nur aus ihrem kulturellen Kontext zu verstehen.
Tatsächlich gilt dieses nicht nur für Dich sondern auch für Deine Leser. Ob Du das jetzt Vertrag nennst oder Hoglwogl spielt dabei kein Rolle.
[…] Bernd hat einiges Lesenswerte zu Verträgen und Genreerwartungen geschrieben. Der Anlaß war meine Besprechung von Norbert Horsts “Sterbezeit” und die Reaktion von Dieter darauf. […]
[…] Bernd hat einiges Lesenswerte zu Verträgen und Genreerwartungen geschrieben. Der Anlaß war meine Besprechung von Norbert Horsts “Sterbezeit” und die Reaktion von Dieter darauf. […]
[…] Bernd hat einiges Lesenswerte zu Verträgen und Genreerwartungen geschrieben. Der Anlaß war meine Besprechung von Norbert Horsts “Sterbezeit” und die Reaktion von Dieter darauf. […]
Ein Musterbeispiel, wie ich finde, von eingeklagter vermeintlicher Vertragsverletzung:
Die Rezension auf der Krimi-Couch zu Van de Weterings
Der Commissaris fährt zur Kur (s. letzter Absatz)
http://www.krimi-couch.de/krimis/janwillem-van-de-wetering-der-commissaris-faehrt-zur-kur.html
Das eher betuliche, bisweilen surrealistisch angehauchte Erzählen Weterings als „Crackphantasien“ eines Autors,
wie der Kritiker meint?
Wie ich es verstehe, sind Weterings Romane zeninspirierte Krimis oder auch Zenromane im Gewand eines Krimis, wie auch immer!
„Alles ist miteinander verbunden“ postuliert Adjudant Grijpstra in besagtem Buch.
Man muß das ja nicht mögen, aber ein langer Blick in den leeren Spiegel hätte wohl verhindert, das womöglich
Unvergleichbare stur vergleichen zu wollen, und vielleicht
sogar erlaubt, den guten Wetering mit dem berühmten
Lächeln im Herzen lesen zu können.
Jürgen
[…] mache, worauf von Dritten wiederum die →Gültigkeit oder überhaupt nur die Existenz des Vertrags →in Frage gestellt wird. Ein klassisches psychologisches Problem: Schlechte Kommunkation. Das will ich nicht. Ich will […]
[…] zum Thema Kriminalliteratur und Erwartungen kann man derzeit → hier, → hier, → hier und jetzt auch noch leider → hier nachlesen. Das hat in der Tat Krimi-Couch-Qualität, meine […]
Lieber Jürgen,
ab und an passiert es und man gerät an ein Buch, dass man falsch liest, weil der Autor unter Voraussetzungen schrieb, die so ganz anders sind als die eigenen. Wenn einem das passiert, tut man gut daran, diese Bücher nicht bewerten zu wollen.
Wie Du schon schriebst, ein Blick in den „leeren Spiegel“ hilft da.
Beste Grüße
bernd
[…] da werfe ich das Wort Vertrag in die unendlichen Weiten des Internets und es geht los. Bernd hat hier ja einiges zu Verträgen gesagt und so hab ich das auch verstanden: gegenseitige Erwartungen an eine […]